Dieser Audiobeitrag wird von der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert.
Der ersten Blumenstück seines armen Advokaten Siebenkäs
erzählt Jean-Paul einen gespenstischen Traum.
Ihm träumte er sei auf einem Gottesacker.
Flackertes Licht dringt durch die Scheiben des Gotteshauses,
wo nach altem Glauben um Mitternacht die Toten aller Jahrhunderte
aus den Gräbern aufstehen, um des Erlösers zu haaren.
Da singt eine hohe, edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz
aus der Höhe auf den Altar nieder, und die Toten rufen
Christus ist kein Gott. Und Christus antwortet, es ist keiner.
Und er erzählt, wie er durch die Welten ging, durch die Milchstraßen
und Wüsten des Himmels flog, aber Gott nicht fand.
Als er aufblickte nach dem göttlichen Auge, da starte ihn die unermessliche Weite
mit einer leeren Augenhöhle an, und die Ewigkeit lag auf dem Chaos
und zernagte es und wieder keuerte sich.
Schreiet fort, Miss-Töne, zerschreiet die Schatten.
Da waren sich die Toten vor die hohe Gestalt und riefen,
Jesus, haben wir keinen Vater? Und er antwortete mit strömenden Tränen,
wir sind alle Weisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.
Da greichten die Miss-Töne heftiger und die Riesenschlange der Ewigkeit
wand sich um die Natur und drückte zermalmend die Welten zu einer
Gottesackerkirche zusammen und alles wurde eng, düster und bang.
Ein letzter gewaltiger Glockenschlag drohte die Welt zu zersplittern.
Doch da erwacht der Träumer, weinend vor Freude, dass alles nur ein Traum war
und er seinen Gott wieder anbeten darf, und friedliche Töne der Natur
umfließen ihn wie von fernen Abendglocken.
Beklemmender als in dieser Rede des Toten Christus vom Weltgebäude herab
wird sich das Lebensgefühl zur Zeit der dämmenden Aufklärung kaum schildern lassen.
Und unmissverständlicher lässt sich auch die Kritik am Rationalismus
der Aufklärung nicht artikulieren, dessen Anhänger nach Jean-Pauls Worten
als Tagelöhner der kritischen Philosophie das Dasein Gottes
kaltblütig und kaltherzig erwegen, als ob vom Dasein des Kragen- und Einhornes die Rede wäre.
Jean-Paul schreibt seine Schreckensvision in den Jahren 1796, 1797
und gibt damit ein Bild der Lebensproblematik der Menschen im Europa seiner Zeit.
Der Rationalismus der Aufklärung hat eine Kehrseite.
Der Mensch hat in der säkularisierten Welt nicht nur Gott,
sondern auch den Zusammenhang mit der Gesellschaft und sich selbst verloren.
Wie ist jeder so allein in der weiten Leichenkuft des Alls?
Ich bin nur neben mir. Oh Vater, oh Vater, wo ist deine unendliche Brust, dass ich an ihr ruhe?
Und wenn jedes Ich sein eigener Vater und Schöpfer ist,
warum kann es nicht auch sein eigener Wirkengel sein?
Ist das neben mir noch ein Mensch? So fragt der Träumer der Vision.
Mit dem Verlust Gottes als oberster Steuerungsinstanz der Gesellschaft
wurde das Zusammenleben der Einzelnen zum Problem.
Zwar war der Mensch nun geistig frei und nur noch sich selbst verantwortlich.
Die Menschen, die vernunsten, sollten nun alles regeln.
Aber schon das Prinzip der Freiheit bar in sich die Gefahr eines Kampfes aller gegen alle.
Die Brüderlichkeit stand gerade unter den Bedingungen der Freiheit und Gleichheit in weiter Ferne.
Man kann die französische Revolution als ein gigantisches Umkippen,
der zuvor vertikalen Sozialstruktur in die Horizontale versteht.
Presenters
Prof. Dr. Eckhard Roch
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
01:02:36 Min
Aufnahmedatum
2013-05-22
Hochgeladen am
2014-01-20 15:47:26
Sprache
de-DE
- Einleitung: Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab - ein Stimmungsbild der Zeit
- Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit: Das kommunikative Problem im Europa Ende des 18. Jahrhunderts
- Schillers Freudenode - ein Trinklied?
- Beethoven und die Aufklärung: Der glorreiche Augenblick - »Europa steht!«
- Die Konzeption: Beehovens wechselnde Pläne mit der Freudenode
- Die Freudenmelodie
- »O Freunde, nicht diese Töne!« Zur Konzeption des Finales der »Neunten«
- Die kleine Schwester: Chorfantasie C-Dur op. 80
- Zeitgenössische Rezeption: Wagners Interpretation der »Neunten«
- al inferno dal paradiso: Beethovens Schlußchor als das »Neue Lied« der erlösten Menchheit
- Widerlegter Optimismus? Die Kehrseite der großen Menschheitsverbrüderung
- Besitzansprüche: Die »Neunte« in der deutschen und europäischen Geschichte
- Pars pro toto: Der Song of Joy
- Internationale Karriere: Von der Freudenmelodie zur Europa-Hymne
- Beethovens großer Apell: »Brüder, überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen!«